Öl, wirtschaftliche Sicherheit und
geopolitische Risiken von heute
Von F. William Engdahl
Bankfachleute und Fondsmanager sind heute sicher, dass sie die Kosten der
verschiedensten Risiken abschätzen und von ihnen profitieren können. Das
fiktive Kreditrisiko oder Kreditausfallderivate über die letzten fünf Jahre
werden nicht in Milliarden, sondern eher in Trilliarden von Dollars beziffert.
Neben anderen Maßnahmen haben diese Instrumente unter anderem die Kreditspannen
weltweit soweit eingeengt, dass sie bei US-Schatzanleihen so gering sind wie
nie zuvor. Die daraus resultierende Zunahme der finanziellen Risiken ist
gefährlicher als zu vielen anderen Zeiten.
Allerdings
verblassen diese Risiken im Vergleich zu anderen, die praktisch kein
Risikoprogrammierer im Computerzentrum irgendeiner Bank begreift — weder
bei JP Morgan-Chase, der Citibank,
Goldman Sachs, Morgan Stanley, noch bei der Deutschen Bank oder UBS. Die Rede
ist von den sogenannten „geopolitischen Risiken“. In meinem heutigen Vortrag möchte ich über diese Risiken sprechen
und darüber, wie man zumindest ihre Dimensionen erfassen kann. Ihre Auswirkungen
auf Investitionen in Gold und auf Anlageentscheidungen ganz allgemein sind
enorm.
Der
Pariser Gipfel zwischen dem russischen Präsident Wladimir Putin, dem
französischen Präsidenten Jacques Chirac und der deutschen Bundeskanzlerin
Angela Merkel im September 2006 hat deutlich gemacht, dass sich Russland als
wichtige Weltmacht zurückmeldet. Das neue Russland steigert seinen Einfluss
durch eine ganze Reihe von strategischen Schritten, in deren Mittelpunkt seine
geopolitisch bedeutsamen Energiereserven stehen—vornehmlich seine Öl- und
Erdgasreserven. Dabei nutzt es die strategischen Irrtümer und massiven
politischen Fehltritte Washingtons geschickt
aus. Das neue Russland ist sich zudem darüber im Klaren, dass es entschlossen
handeln muss, wenn es nicht bald von einem militärischen Rivalen, den USA,
eingekreist und übertrumpft werden will, gegen den es nur noch wenige
Verteidigungsmöglichkeiten hat. In dem weitgehend verdeckten Kampf geht es um
den höchsten Einsatz in der heutigen Weltpolitik. Für die Strategen in
Washington sind der Iran und Syrien lediglich Schritte auf dem Weg zu dem
großen Endspiel gegen Russland.
Auf der
Tagesordnung des Pariser Gipfels stand auch die Frage der zukünftigen
russischen Energielieferungen an die Europäische Union, insbesondere an
Deutschland. Das war bezeichnend für die neue Stärke Russlands unter Putin.
Putin erklärte der deutschen Kanzlerin, dass
Russland „möglicherweise“ in Zukunft einen Teil des Erdgases aus seinem
riesigen Shtokman-Feld in der Barentsee umleiten werde. Das $20 Milliarden
teure Projekt soll 2010 ans Netz gehen, um Terminals in den Vereinigten Staaten
mit Flüssiggas zu beliefern.
Seit den
verheerenden Fehlschlägen der von den USA unterstützten „bunten Revolutionen“
in Georgien und später der Ukraine, hat Russland begonnen, sehr vorsichtig
seine strategische Karte zu spielen—sowohl bei Energieabschlüssen als auch beim
Verkauf von Rüstungsmaterial – von Kernreaktoren für den Iran bis zu
Rüstungsmaterial für den Iran, Venezuela und andere lateinamerikanische Länder,
und strategischen Kooperationsabkommen über Erdgas mit Algerien und dem Iran.
Gleichzeitig
hat sich die Regierung Bush durch eine außenpolitische Agenda, die Verbündete
und Feinde gleichermaßen rücksichtslos mit Verachtung straft, immer tiefer in
einen geopolitischen Sumpf verrannt. Mehr als jeder andere in Washington steht
für diese Politik der Rücksichtslosigkeit der frühere Chef von Halliburton,
Dick Cheney.
Bushs
Präsidentschaft gründet sich auf eine klare Strategie. Sie ist von ihren Kritikern
häufig missverstanden worden, weil sie sich auf deren sichtbarste Komponente
konzentrierten, also den Irak, den Mittleren Osten, die Falken in der Umgebung
des Vizepräsidenten und dessen alten Freund, Verteidigungsminister Don
Rumsfeld.
Die
Strategie von George Bush besteht in einer US-Außenpolitik auf der Grundlage
der Sicherung der direkten Kontrolle
der globalen Energiereserven, einer Kontrolle durch die vier großen
US- bzw. mit den USA verflochtenen privaten Ölriesen -- ChevronTexaco oder
ExxonMobil, BP oder Royal Dutch Shell. Insbesondere zielt sie auf die Kontrolle
aller bedeutenden Ölregionen sowie der wichtigen Erdgasfelder. Dieses
Kontrollbestreben verläuft parallel mit dem zunehmenden Anspruch der USA auf totale militärische Vormachtstellung gegenüber der einzigen potenziellen Bedrohung für diese globalen
Ambitionen—Russland. Wahrscheinlich kann niemand die amerikanische Militär- und
Energiepolitik besser zu einer zusammenhängenden Dominanzstrategie verbinden
als Cheney, der Anfang der Neunziger Jahre unter Bush senior auch
Verteidigungsminister war.
Die Cheney-Bush-Regierung wird beherrscht von einer Interessenkoalition aus Vertretern von Big Oil und der wichtigsten Sektoren des amerikanischen militärisch-industriellen Komplexes. Diese privatwirtschaftlichen Interessen üben ihre Macht dadurch aus, dass sie die US-Regierungspolitik kontrollieren. Dazu gehört wesentlich eine aggressive militaristische Agenda. Ihre Verkörperung ist Cheneys ehemaliger Arbeitgeber, Halliburton Inc., gleichzeitig der weltgrößte Dienstleister im Bereich Energie und Geophysik und der weltgrößte Erbauer von Militärstützpunkten.
Zum
Verständnis der Politik muss man sich die Position von Cheney in der Frage
zukünftiger Öllieferungen als Chef von Halliburton unmittelbar vor seiner Wahl
zum Vizepräsidenten anschauen.
Schon im
September 1999, ein Jahr vor den amerikanischen Wahlen, die ihn zum mächtigsten
Vizepräsidenten der Geschichte machten, hielt Cheney vor seinen Kollegen aus
der Ölindustrie beim London Institute of Petroleum eine höchst aufschlussreiche
Rede. In einer globalen Skizze der Aussichten für Big Oil, sagte Cheney:
Schätzungen zufolge wird in den
kommenden Jahren die globale Ölnachfrage um durchschnittlich zwei Prozent im
Jahr zunehmen, bei gleichzeitigem natürlichen Rückgang der Produktion aus
bestehenden Reserven um drei Prozent, vorsichtig geschätzt. Das heißt, dass wir
bis zum Jahr 2010 einen zusätzlichen Bedarf von etwa fünfzig Millionen Barrels
pro Tag haben werden. Wo soll dieses Öl herkommen? Regierungen und staatliche
Ölgesellschaften kontrollieren bekanntlich etwa neunzig Prozent der Vorräte. Im
Prinzip ist Öl immer noch eine Staatsindustrie. Trotz der großen Möglichkeiten
für Öl in anderen Weltregionen bleibt der Mittlere Osten mit zwei Drittel der
Ölreserven der Welt und den geringsten Kosten letztlich der Hauptgewinn …
Cheneys
Ausführungen lohnen eine sorgfältige Lektüre. Er geht von einem
Auseinanderklaffen von Angebot und Nachfrage von circa 4 Millionen Barrels pro
Tag aus, und zwar kumulativ, d.h. Jahr für Jahr – bis wir im Jahr 2010 bei sage
und schreibe 50 Millionen neuen Barrels täglich ankommen. Das sind 50% der
gesamten heutigen Weltfördermenge von 83 Millionen Barrels pro Tag. Mit den diversen
Peak-Oil-Theorien über das Erreichen der maximalen Ölfördermenge hat das also
nichts zu tun. Es entspricht fünf neuen Ölregionen in der Größenordnung des
heutigen Saudi Arabien.
Da es
sieben Jahre oder länger dauern kann, bis ein neues Ölfeld die volle
Produktionskapazität erreicht hat, bleibt also auch nicht mehr viel Zeit, wenn
eine horrende Ölknappheit und schwindelnd hohe Preise für Gas und Öl abgewendet
werden sollen. Cheneys Schätzung beruhte zudem auf einer viel zu vorsichtigen
Schätzung der Nachfrage nach Ölimporten in China und Indien, die mittlerweile
die beiden Länder mit dem am schnellsten wachsenden Ölverbrauch auf dem
Planeten sind.
Eine
weitere denkwürdige Äußerung von Cheney in London 1999 war die Bemerkung, dass
„der Mittlere Osten mit zwei Dritteln der
Ölreserven der Welt und den geringsten Kosten letztlich der Hauptgewinn ist.“ Allerdings befand sich dieser Öl“gewinn“ des
Mittleren Ostens in staatlicher Hand, unzugänglich für eine Ausbeutung durch
den privaten Markt und damit weitestgehend der Kontrolle von Cheneys
Halliburton und seinen Freunden bei ExxonMobil, Chevron, Shell oder BP
entzogen.
Cheneys
Bemerkung, „Im Prinzip ist Öl immer noch
eine Staatsindustrie,“ und keine private erhält neues Gewicht, wenn man
weiß, dass Cheney auch an einem äußerst einflussreichen Bericht einer
Denkfabrik mitwirkte, der im September 2000 während des ersten Wahlkampfs von
Bush-Cheney erschien. Gemeinsam mit Don Rumsfeld, Paul Wolfowitz und vielen
anderen, die später Mitglieder der neuen Regierung Bush wurden, veröffenlichte Cheney
einen Grundsatzbericht
mit dem Titel „Die Erneuerung der Verteidigung Amerikas“ (Re-building America’s
Defenses). Herausgeber war das „Projekt für das neue amerikanische Jahrhundert“
(Project for the New American Century - PNAC).
Die
PNAC-Gruppe um Cheney forderte den neuen US-Präsidenten in spe auf, einen
geeigneten Vorwand für einen Krieg gegen den Irak zu finden, um ihn zu besetzen
und die zweitgrößten Ölvorkommen des Mittleren Ostens unter die direkte
Kontrolle der USA zu bringen. Der Bericht stellt ganz offen fest: „Obwohl der
ungelöste Konflikt mit dem Irak die unmittelbare Rechtfertigung (sic) liefert,
geht die Notwendigkeit einen substantiellen amerikanischen Truppenpräsenz am
Golf über die Frage des Regimes von Saddam Hussein hinaus ...“
Cheney
unterzeichnete im September 2000 ein Grundsatzdokument, in dem erklärt wurde,
die Schlüsselfrage sei die „amerikanische Truppenpräsenz am Golf“ und ein
Regimewechsel im Irak - ganz unabhängig von den moralischen Qualitäten Saddam
Husseins. Es war ein erster Schritt zur Verlegung von US-Truppen dahin, wo
„letztlich der Hauptgewinn“ lag.
Genau
darauf hatte Cheney in seiner Londoner Rede von 1999 angespielt. Holt die
Ölreserven des Mittleren Ostens aus den Händen unabhängiger Staaten und in die
Hände derer, die von den USA kontrolliert werden. Die militärische Besetzung
des Irak war der erste wichtige Schritt in dieser amerikanischen Strategie.
Washingtons „Hauptgewinn“ war allerdings die Kontrolle über die russischen Ölreserven.
Aus
naheliegenden militärischen und politischen Gründen kann Washington nicht offen
eingestehen, dass seit dem Fall der Sowjetunion im Jahr 1991 die Zerstückelung
oder Zerschlagung Russlands und die effektive Kontrolle über dessen riesige Öl-
und Gasvorkommen, der „höchste Preis“, sein strategisches Ziel ist. Noch immer
hat der russische Bär ein respekteinflößendes militärisches Potenzial, und noch
hat er nukleare Zähne.
Das ist
der Punkt, an dem uns allmählich eine böse Ahnung beschleicht, was wir unter
dem verstehen müssen, dass ich “geopolitisches Risiko” nenne - ein heute häufig missbrauchter
Begriff.
Mitte der
Neunzigerjahre ging Washington systematisch daran, alle früheren
Satellitenstaaten der Sowjetunion nicht nur in die Europäische Union, sondern
auch in die von Washington dominierte NATO zu führen. Bis 2004 waren Polen,
Tschechien, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien, die
Slowakei und Slowenien sämtlich in die NATO aufgenommen worden, und die
Republik Georgien wurde auf den Beitritt vorbereitet.
Die
Ausdehnung der NATO auf frühere Staaten der Sowjetunion oder des Warschauer
Pakts rund um Russland war für das PNAC eine wichtige Voraussetzung. Bereits
1996 war Bruce Jackson, PNAC-Mitglied, alter Freund Cheneys und damals in
leitender Stellung bei dem amerikanischen Rüstungsriesen Lockheed Martin tätig,
Vorsitzender des US-Komitees für die Erweiterung der NATO (Committee to Expand
NATO), einer mächtigen Lobbyorganisation in Washington.
Dem
US-Komitee für die Erweiterung der NATO gehörten auch die PNAC-Mitglieder Paul
Wolfowitz, Richard Perle, Stephen Hadley und Robert Kagan an. Kagan ist
verheiratet mit Victoria Nuland, die inzwischen US-Botschafterin bei der NATO
ist. Von 2000 bis 2003 war sie Cheneys außenpolitische Beraterin. Hadley, ein
dem Vizepräsidenten Cheney nahestehender Falke und Hardliner, wurde von
Präsident Bush zum Nachfolger von Condoleezza Rice als nationaler
Sicherheitsberater ernannt.
Vom PNAC
rückten Mitglieder des Falkennetzwerks um Cheney in Schlüsselpositionen in der
Regierung Bush auf, wo sie die NATO- und Pentagon-Politik bestimmten. Nachdem
Bruce Jackson als erfolgreicher Lobbyist beim Kongress 1999 die Erweiterung der
NATO auf Polen, Tschechien und Ungarn erreicht hatte, wandte er sich dem Aufbau
der sogenannten Vilnius-Gruppe zu, die die Aufnahme von zehn weiteren
ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten an der Peripherie Russlands in die NATO
betrieb – in Jacksons Worten, den „großen Knall.“
Nachdem
man mit den NATO-Aufnahmen so weit gekommen war, löste Jackson im Jahr 2003 das NATO-Komitee auf, um im
selben Büro als neue Lobbyorganisation unter dem Namen „Projekt Übergang zur
Demokratie“ (Project on Transitional Democracies) wieder zu eröffnen, das nach
seinen eigenen Worten „organisiert wurde zur Nutzung der Möglichkeiten zur Beschleunigung demokratischer Reformen und Integration, die unserer Meinung
nach in der erweiterten europäisch-atlantischen Region im nächsten Jahrzehnt
bestehen werden“. Mit anderen Worten, um die Serie von bunten Revolutionen und
Regimewechseln im russischen Eurasien voranzutreiben. Die drei wichtigsten
Akteure des Projekts Übergang zur Demokratie arbeiteten alle für die
Republikanische Partei und haben enge Verbindungen zu bedeutenden
Rüstungslieferanten, vornehmlich Lockheed Martin und Boeing.
Jackson
rief außerdem das „Komitee zur Befreiung des Irak“ (Committee for the
Liberation of Iraq - CLI) ins Leben. Zum Beirat des CLI gehörten
Neokonservative und stramme Republikaner wie Jeane Kirkpatrick, Robert Kagan,
Richard Perle, William Kristol und der ehemalige Direktor der CIA James
Woolsey. Stellvertretende Ehrenvorsitzende waren die Senatoren Joe Lieberman
(Demokratische Partei-Connecticut) und John McCain (Republikanische
Partei-Arizona). Das Weiße Haus hatte Jackson 2002 gebeten, das CRI zu gründen,
um den Erfolg zu wiederholen, den er bei der Kampagne für die NATO-Erweiterung
mit seinem US-Komitee erzielt hatte. „Im Weißen Haus hieß es: ‘Wir brauchen
Sie, Sie müssen für den Irak dasselbe erreichen wie für die NATO',” sagte
Jackson in einem Interview im Januar 2003.
Ich fasse
zusammen: die Einkreisung Russlands durch die NATO, bunte Revolutionen in ganz
Eurasien und der Irakkrieg bildeten ein und dieselbe amerikanische
geopolitische Strategie, Teil einer umfassenden Strategie zur letztendlichen De-Konstruktion
Russlands als potentiellen Rivalen für eine alleinige Hegemonie der Supermacht
USA. Russland—nicht der Irak oder
der Iran—war und IST das primäre Ziel dieser Strategie. Welchen Preis hat
dieses geopolitische Risiko?
Während einer Zeremonie im Weißen Haus zur Begrüßung der zehn neuen NATO-Mitglieder im Jahr 2004 erklärte Präsident Bush, der Auftrag der NATO habe sich jetzt weit über die Grenzen der Allianz ausgedehnt. „NATO-Mitglieder reichen den Staaten des Mittleren Ostens die Hand, um unsere Fähigkeiten zur Bekämpfung des Terrorismus zu stärken und für unsere gemeinsame Sicherheit zu arbeiten“, sagte er. Mittlerweile allerdings scheint der Auftrag der NATO sogar über die globale Sicherheit hinauszugehen. Bush fügte hinzu: „Wir erwägen Möglichkeiten, um den Impuls der Freiheit im weiteren Mittleren Osten zu fördern und zu verstärken.“ Mit anderen Worten, der Freiheit, sich in den Umkreis eines NATO-Bündnisses unter der Kontrolle Washington zu begeben.
Das Ende
der Jeltsin-Ära brachte eine kleine Störung in den Plänen der USA. Langsam und
vorsichtig profilierte sich Putin als dynamische nationale Kraft, der sich dem
Wiederaufbau Russlands verpflichtet fühlte, nachdem das Land unter der Ägide
des IWF von einer Kombination westlicher Banken und korrupter russischer
Oligarchen geplündert worden war.
Die
russische Ölförderung war seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion so weit
gestiegen, dass Russland bis zum Ausbruch des Kriegs zwischen den USA und dem
Irak 2003 zum weltweit zweitgrößten Ölförderland nach Saudi Arabien
aufgestiegen war.
Das für
die neue russische Energie-Geopolitik entscheidende Ereignis trat 2003 ein,
gerade zu dem Zeitpunkt, als Washington deutlich machte, dass es ungeachtet
weltweiter Proteste oder diplomatischer Feinheiten der UNO militärische
Schritte gegen den Irak und den Mittleren Osten unternehmen würde.
Die
spektakuläre Verhaftung des russischen Milliardärs und ‘Oligarchen’ Michail
Chodorkowski im Oktober 2003 und die Beschlagnahmung seines riesigen Ölkonzerns
Yukos ist wesentlich für das Verständnis der russischen Energie-Geopolitik.
Chodorkowski
wurde im Oktober 2003 am Flughafen von Nowosibirsk unter dem Vorwurf der
Steuerhinterziehung verhaftet. Die Regierung Putin fror wegen einer Klage wegen
Steuervergehen die Aktien der Ölgesellschaft Yukos ein. In einem langwierigen
Prozess wurde Chodorkowski zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, sein Ölvermögen
fiel an den russischen Staat zurück.
In den
westlichen Medienberichten, die das Vorgehen der Regierung Putin als einen
Rückfall in Sowjetmethoden darstellten, blieb der eigentliche Auslöser für
Putin dramatisches Vorgehen unerwähnt.
Die
Verhaftung Chodorkowskis kam vier Wochen vor einer entscheidenden Wahl zur
russischen Duma, dem russischen Unterhaus, bei der Chodorkowski unter
Ausnutzung seines erheblichen Vermögens die Mehrheit der Stimmen gekauft hatte.
Die Kontrolle der Duma war der erste Schritt in Chodorkowskis Plan, im
folgenden Jahr als Präsidentschaftskandidat gegen Putin anzutreten. Der Sieg in
der Duma hätte ihm ermöglicht, die Wahlgesetze zu seinen Gunsten zu ändern,
ebenso wie ein kontroverses Gesetz, das damals in der Duma erarbeitet wurde,
das „Gesetz über unterirdische Ressourcen“. Dieses Gesetz hätte verhindert,
dass Yukos und andere Privatunternehmen die Kontrolle über Bodenschätze
übernahmen oder private, von den russischen Staatspipelines unabhängige
Pipelinetrassen bauten.
Chodorkowski
hatte die Vereinbarung der Oligarchen mit Putin gebrochen, nach der ihr
Vermögen – das sie de facto dem Staat in den manipulierten Versteigerungen
unter Jelzin gestohlen
hatten—unangetastet bliebe, wenn sie sich aus der russischen Politik
heraushielten und einen Teil des gestohlenen Geldes an den Staat
zurückerstatteten. Chodorkowski, der mächtigste Oligarch zu der Zeit, diente
als Vehikel für etwas, das sich zu einem offenkundig von Washington
unterstützten Putsch gegen Putin entwickelte.
Vor
seiner Verhaftung war Chodorkowski am 14. Juli 2003 insgeheim mit Vizepräsident
Dick Cheney zusammengetroffen.
Nach dem
Treffen mit Cheney nahm Chodorkowski Gespräche mit ExxonMobil und
ChevronTexaco, der früheren Firma von Condi Rice, über die Übernahme eines erheblichen
Aktienanteils an Yukos, angeblich zwischen 25% und 40%, auf. Durch die
Verbindung zu den großen amerikanischen Ölriesen und damit zu Washington sollte
Chodorkowski eine de-facto-Immunität gegen mögliche Interventionen der
Regierung Putin erhalten, praktisch ein Vetorecht über zukünftige russische Öl-
und Gaspipelines und Ölgeschäfte. Wenige Tage vor seinen Verhaftung im Oktober
2003 wegen Steuervergehen, war Chodorkowski Gastgeber für George H.W. Bush, dem
Moskauer Vertreter der mächtigen und verschwiegenen Washingtoner Carlyle Group.
Sie besprachen die abschließenden Details des Kaufs von Yukos-Aktien durch die
amerikanische Ölgesellschaft.
Yukos
hatte außerdem gerade ein Kaufangebot für seinen Rivalen Sibneft abgegeben. Mit
19,5 Milliarden Barrels Öl und Gas wäre YukosSibneft dann nach ExxonMobil
Eigentümer der zweitgrößten Öl- und Gasreserven der Welt geworden, YukosSibneft
der viertgrößte Produzent der Welt, mit einer Fördermenge von 2,3 Millionen
Barrels Crude-Öl. Der Kauf von YukosSibneft durch Exxon oder Chevron wäre im
wahrsten Sinne des Wortes ein energiepolitischer Staatsstreich gewesen. Cheney
wusste das; Bush wusste es; Chodorkowski wusste es. Vor allem wusste es
Wladimir Putin und handelte, um das zu verhindern.
Chodokowskis
Verbindungen zum angloamerikanischen Machtestablishment waren eindrucksvoll.
Seine Stiftung, die Stiftung Offenes Russland, war der Stiftung Open Society
seines Freundes George Soros nachgebildet. Im Rate der Stiftung Offenes
Russland saßen Henry Kissinger und dessen Freund Jacob Lord Rothschild, der
Londoner Spross der Bankiersfamilie. Auch Arthur Hartman, ein ehemaliger US-Botschafter in Moskau, war
Mitglied des Stiftungsrats.
Nach
Chodorkowskis Verhaftung berichtete die Washington
Post , dass der inhaftierte russische Milliardär Stuart Eizenstat – früher
Stellvertretender Finanzminister,
Staatsekretär im Außenministerium, Staatsekretär im Handelsministerium
unter Clinton – engagiert hatte, um in Washington für seine Freilassung zu
agieren. Chodorkowski stand dem angloamerikanischen Establishment sehr nah.
Die nun
folgenden Proteste der Medien und offizieller Stellen des Westens über den
Rückfall in Sowjetmethoden und krasse Machtpolitik übergingen wohlweislich die
Tatsache, dass Chodorkowski selbst auch nicht unbedingt ein Ehrenmann war. Zu
einem früheren Zeitpunkt hatte Chodorkowski einseitig seinen Vertrag mit
British Petroleum aufgekündigt. BP war eine Partnerschaft mit Yukos eingegangen
und hatte sich Bohrungen in dem vielversprechenden sibirischen Priobskoye-Ölfeld
300 Millionen US-Dollar kosten lassen.
Nachdem
BP die Bohrungen durchgeführt hatte, drängte Chodorkowski BP mit
Gangstermethoden, die in den meisten zivilisierten Ländern illegal gewesen
wären, aus dem Geschäft. Bis 2003 hatte die Ölproduktion in Priobskoye 129
Millionen Barrels erreicht, was einem Marktwert von rund 8 Milliarden US-Dollar
entspricht. Bereits 1998, nachdem der IWF Milliarden an Russland gezahlt hatte,
um den Zusammenbruch des Rubels zu verhindern, zweigte Chodorkowskis Bank
Menatep IWF-Gelder in der atemberaubenden Höhe von 4,8 Milliarden US-Dollar für
seine handverlesenen Spießgesellen im Bankgeschäft ab, unter anderem für
mehrere amerikanische Banken.
Das Duell
zwischen Putin und Chodorkowski war das Zeichen für eine entscheidende Wende
der Regierung Putin, hin zur Erneuerung Russlands und dem Aufbau strategischer
Verteidigungslinien gegen die ausländischen Angriffe unter der Führung von
Cheney und dessen britischen Freund Tony Blair. Sie vollzog sich im Kontext des
dreisten Griffs der USA nach dem Irak im Jahr 2003 und der unilateralen
Ankündigung der Regierung Bush, dass die USA ihre Vertragspflichten gegenüber
Russland aus dem in der Vergangenheit abgeschlossenen Raketenabwehrvertrag
aufkündigten, um den Ausbau der amerikanischen Raketenabwehr voranzutreiben,
was von Moskau nur als feindlicher Akt gegen die Sicherheit Russlands
interpretiert werden konnte.
2003 war
tatsächlich kein besonderer strategischer Scharfsinn mehr nötig, um zu
erkennen, dass den Falken im Pentagon und ihren Verbündeten in der
Rüstungsindustrie und Big Oil die Vision eines Amerika vorschwebte, das
ungebunden durch völkerrechtliche Verträgen unilateral in seinem ureigensten –
natürlich von den Falken definierten - Interesse handeln konnte.
Auf diese
Ereignisse folgte schon bald die von Washington finanzierte verdeckte
Destabilisierung einer Reihe von Regierungen an der russischen Peripherie, die
zum Moskauer Interessenbereich gehört hatten. Dazu gehörte die „Rosa
Revolution“ in der winzigen Republik Georgien vom November 2003, bei der Eduard
Schewardnadse von einem jungen in den USA ausgebildeten und NATO-freundlichen
Präsidenten, Micheil Saakaschwili, verdrängt wurde. Der 37jährige Saakaschwili
hatte sich passenderweise bereit erklärt, die Ölpipeline von Baku über Tiflis
nach Ceyhan zu unterstützen, mit der die Kontrolle Moskaus über die Ölvorkommen
von Aserbeidschan am Kaspischen Meer verhindert werden konnte. Seit dem
Machtantritt von Präsident Micheil Saakaschwili unterhalten die Vereinigten
Staaten enge Beziehungen zu Georgien. Amerikanische Militärausbilder schulen
georgische Truppen, und Washington hat Millionen von Dollar aufgewendet, um
Georgien auf den Beitritt zur NATO vorzubereiten.
Nach der
Rosa Revolution in Georgien organisierten Woolsey’s Freedom House, die
„Nationale Stiftung für Demokratie“ (National Endowment for Democracy - NED),
die Soros-Stiftung und andere von Washington unterstützte nichtsstaatliche
Organisationen die offen provokative „Orange Revolution“ vom November 2004 in der
Ukraine. Ziel der Orange Revolution war es, dort ein NATO-freundliches Regime unter der umstrittenen
Präsidentschaft von Viktor Juschtschenko an die Macht zu bringen, in einem
Land, das strategisch in der Lage war, die wichtigsten Pipelineströme von russischem
Öl und Gas nach Westeuropa zu unterbrechen. Von Washington unterstützte
„demokratische Oppositionsbewegungen“ im benachbarten Weißrussland kamen
gleichfalls in den Genuss der Großzügigkeit der Bush-Regierung in Form von
Millionen von Dollars, ebenso Kirgisien, Usbekistan und entlegenere frühere
Staaten der Sowjetunion, die auch zufällig eine Barriere zwischen möglichen
Energiepipelines zwischen China und Russland und frühren Sowjetstaaten wie
Kasachstan bilden könnten.
Wieder
bildet die Kontrolle über Energie-, Öl- und Gaspipelines das zentrale Motiv
hinter den Aktionen der USA. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Wladimir
Putin sich allmählich fragte, ob sein neuer, wiedergeborener texanischer
Gebetspartner George W. Bush nicht in Wirklichkeit, wie die Indianer
sagen, mit gespaltener Zunge zu ihm
sprach.
Ende 2004
war es Moskau klar, dass sich ein neuer Kalter Krieg massiv anbahnte, diesmal
über die strategische Kontrolle der Energie und unilaterale nukleare
Vormachtstellung. Aus den unmissverständlichen Muster der Aktionen von
Washington seit der Auflösung der Sowjetunion 1991 war ebenso klar, dass das Endziel der amerikanischen Eurasienpolitik
nicht China, nicht der Irak und nicht der Iran war.
Das geopolitische ‘Endziel’ war und ist für Washington
die vollständige Zerschlagung Russlands, des einzigen Staats in Eurasien,
der in der Lage wäre, unter Einsatz seiner enormen Öl- und Gasvorkommen ein
effektives Netz von Allianzen zu organisieren. Natürlich kann man das niemals
offen sagen. Welchen Preis hat dieses geopolitische Risiko?
Nach 2003
griffen Putin und die russische Außenpolitik, und besonders die Energiepolitik,
wieder auf die das geopolitische Konzept des ‘Kernlands’ von Sir Halford
Mackinder zurück, das seit 1946 die Grundlage der sowjetischen Strategie
während des Kalten Kriegs gebildet hatte.
Putin
ergriff eine Reihe von Defensivmaßnahmen, um angesichts der zunehmend
eindeutigen US-Politik der Einkreisung und Schwächung Russlands einen
tragfähigen Ausgleich zu schaffen. In der Folge haben diverse strategische
Missgriffe der USA Russland diese Aufgabe etwas erleichtert. Nachdem der
Einsatz sich mittlerweile auf beiden Seiten—NATO und Russland—erhöht hat, ist
Putins Russland zur Sicherung einer besseren geopolitischen Position von der schlichten
Defensive zu einer dynamischeren Offensive übergegangen, wobei es seine
Energiereserven als Hebel einsetzt.
Man muss
den historischen Hintergrund des Begriffs Geopolitik kennen. Im Jahr 1904 hielt
ein britischer Geographiewissenschaftler namens Halford Mackinder einen Vortrag
vor der Royal Geographic Society in London, der die Geschichte verändern
sollte. In seinem Vortrag mit dem Titel „Der geographische Angelpunkt der
Geschichte“ versuchte Mackinder eine Definition der Beziehung zwischen den
geographischen Gegebenheiten einer Nation oder Region—deren Topographie, Land-
und Seeverbindungen, Klima—und ihrer Politik und Position in der Welt. Er
postulierte zwei Klassen von Mächten: Seemächte, unter anderem Großbritannien,
die USA und Japan; und die großen Landmächte Eurasiens, die seit der
Entwicklung der Eisenbahnen in der Lage waren, große Landmassen in einem
Staatsgebiet zu vereinen, ohne vom Meer abhängig zu sein.
Für Mackinder war
der Schlüssel zur Hegemonie des Britischen Weltreichs nach dem Ersten Weltkrieg
1914-1917, um jeden Preis eine Interessenkonvergenz zwischen den Nationen
Osteuropas—Polen, Tschechoslowakei, Österreich-Ungarn—und dem Eurasischen
‘Kernland’ mit dem Zentrum Russland zu verhindern. Bei den Versailler
Friedensverhandlungen fasste Mackinder seine Ideen in dem folgenden berühmten
Ausspruch zusammen:
Wer Mitteleuropa beherrscht, gebietet über das Kernland;
Wer das Kernland beherrscht, gebietet über die Welt-Insel;
Wer die Welt-Insel beherrscht, kontrolliert die Welt.
Unter dem
Kernland verstand Mackinder das Zentrum Eurasiens. Die Welt-Insel war ganz
Eurasien, einschließlich Europas, des Mitteleren Ostens und Asiens.
Großbritannien, das niemals Teil Kontinentaleuropas gewesen war, war eine
eigene Seemacht. Mackinders geopolitische Perspektive war entscheidend für den
Eintritt Großbritanniens in den ersten Weltkrieg 1914 und den Zweiten
Weltkrieg. Sie prägte Churchills kalkulierte Provokationen des zunehmend
paranoiden Stalin seit 1943, die Russland in den späteren Kalten Krieg zogen.
Aus Sicht
der USA ging es während der Ära des Kalten Kriegs zwischen 1946 und 1991
ausschließlich darum, wer die Kontrolle über Mackinders Welt-Insel erlangen
sollte, konkreter, wie man das eurasische Kernland mit Zentrum Russland eben
daran hindern konnte. Ein Blick auf eine Polarprojektionskarte der
Militärbündnisse der USA während des Kalten Krieges beweist: Die Sowjetunion
war geopolitisch eingedämmt und an jedweder bedeutenderen Verbindung mit
Westeuropa, dem Mittleren Osten oder Asien gehindert worden. Im Kalten Krieg
ging es um die russischen Bestrebungen, diesen NATO-zentrierten Eisernen
Vorhang zu umgehen.
In seiner Beschreibung
der wichtigsten strategischen Ziele der USA, den Zusammenschluss von Eurasien
zu einem zusammenhängenden Wirtschafts- und Militärblock und damit die Bildung
eines Gegengewichts zu der einzigen Supermacht USA zu verhindern, verwendete
der amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski 1997 ausdrücklich
Mackinders geopolitisches Konzept.
Zum Verständnis der
amerikanischen Außenpolitik seit dem Anfang der Bush-Cheney-Präsidentschaft
2001 ist daher ein Zitat aus einem aufschlussreichen Artikel von Brzezinski aus
Foreign Affairs vom September/Oktober
1997 hilfreich:
„Die Mehrzahl der politisch durchsetzungsfähigen und
dynamischen Staaten der Welt liegt in Eurasien. Im Laufe der Geschichte kamen
alle, die globale Machtansprüche erhoben, aus Eurasien. Die
bevölkerungsreichsten Bewerber um regionale Hegemonie, China und Indien, liegen
in Eurasien, ebenso wie alle potentiellen Herausforderer der politischen oder
wirtschaftlichen Vormachtstellung Amerikas. Nach den Vereinigten Staaten liegen
die sechs nächstgrößten Volkswirtschaften und Länder mit den höchsten Rüstungsausgaben
in dieser Region, ebenso alle legitimen Atommächte der Welt außer einer und
alle heimlichen Atommächte außer einer. In Eurasien leben 75 Prozent der
Weltbevölkerung, es produziert 60 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts und
besitzt 75 Prozent der globalen Energiereserven. Insgesamt übersteigt das
Machtpotential Eurasiens sogar das
Amerikas.
Eurasien ist ein Superkontinent, die Achse der Welt. Eine
Macht, die die Vorherrschaft in Eurasien hätte, hätte entscheidenden Einfluss
auf zwei der produktivsten Weltregionen, Westeuropa und Ostasien. Ein Blick auf
die Karte zeigt zudem, dass ein Land mit einer dominierenden Rolle in Eurasien
fast automatisch auch den Mittleren Osten und Afrika kontrollieren könnte. Da
Eurasien derzeit das entscheidende geopolitische Schachbrett ist, ist es nicht
mehr damit getan, eine Politik für Europa und eine für Asien zu entwerfen. Die Entwicklung der Machtverteilung auf der
eurasischen Landmasse hat entscheidende Bedeutung für Amerikas globale
Vormachtstellung ….’(Hervorhebung durch den Autor -w.e.)
Wenn wir die Worte des
Washingtoner Strategen Brzezinski betrachten und die Axiome des Halford
Mackinder als zentrales Motiv der britischen und später der amerikanischen
Außenpolitik über mehr als ein Jahrhundert verstehen, wird allmählich klar,
warum der neu organisierte russische Staat unter der Präsidentschaft von
Wladimir Putin sich in Bewegung gesetzt hat, um sich gegen die von Washington
im Namen der Demokratie geförderten Angebote und offenkundigen Bestrebungen zu seiner
Zerschlagung zur Wehr zu setzen. Was hat Putin getan, um die russischen
Verteidigungslinien zu stärken? Die Antwort besteht aus einem Wort: Energie.
Die russische
Energie-Geopolitik
Nach Lebensstandard,
Sterblichkeitsrate und wirtschaftlichem Wohlstand gemessen rangiert Russland
heute nicht unter den Weltmächten. Gemessen nach seinen Energiereserven ist es
ein Koloss. Nach seiner Landmasse ist es immer noch die größte Einzelnation der
Welt, mit einer Staatsfläche, die sich vom Pazifik bis an die Schwelle Europas
erstreckt. Es besitzt ein riesiges Territorium, reiche Bodenschätze und die
weltgrößten Vorkommen von Erdgas, der Energiequelle, die derzeit im Mittelpunkt
bedeutender globaler Machtspiele steht. Zudem ist es trotz des Zusammenbruchs
der Sowjetunion und des seitdem erfolgten Verfalls des Militärs die einzige
Macht der Welt, die mit einer Militärkapazität den USA Konkurrenz machen
könnte.
Russland besitzt
über 130.000 Ölquellen und etwa 2000 Öl- und Gasvorkommen, von denen mindestens
900 bisher nicht ausgebeutet werden. Seine Ölvorkommen werden auf 150
Milliarden Barrels geschätzt, die gleiche Menge wie im Irak. Sie könnten noch
erheblich umfangreicher sein, wurden aber wegen der Schwierigkeit von Bohrungen
in entlegenen Regionen der Arktis noch nicht abgebaut. Bei Ölpreisen von über
60 US Dollar pro Barrel wird die Exploration in diesen entlegenen Regionen
wirtschaftlich interessant.
Derzeit gibt es drei
Transportwege für das russische Öl in die ausländischen Märkte: nach Westeuropa
über die Ostsee und das Schwarze Meer; über die Nordroute; in den Fernen Osten
nach China oder Japan und die ostasiatischen Märkte. An der Ostsee hat Russland
einen Ölterminal in St. Petersburg und einen erweiterten Ölterminal in Primorsk.
Zu dem staatlichen russischen
Netz von Erdgaspipelines, das „Gastransportverbundnetz“ gehört ein umfassendes
Netz von Pipelines und Kompressorstationen, das sich mit über 150.000
Kilometern Länge über ganz Russland zieht. Nach dem Gesetz ist nur die
staatseigene Gazprom zur Nutzung der Pipeline berechtigt. Das Netz ist
vermutlich neben dem Öl und Gas selbst der wertvollste Posten im russischen
Staatsvermögen. Dies ist das Herzstück von Putins neuer Erdgas-Geopolitik und
der Hauptkonfliktpunkt mit westlichen Öl- und Gasgesellschaften und der
Europäischen Union, deren Energiekommissar Andras Piebalgs aus dem neuen
NATO-Mitgliedsland Lettland stammt, das früher zur UdSSR gehörte.
Als Moskau 2001 klar
wurde, dass Washington einen Weg finden würde, die baltischen Republiken in die
NATO zu führen, trieb Putin den Bau eines neuen, 2,2 Milliarden US Dollar
teuren, großen Ölhafens in Primorsk an der Ostsee voran. Dieses Projekt, das
Baltische Pipeline-System (BPS), verringert die Abhängigkeit der Exporte von
Lettland, Litauen und Polen erheblich. Das BPS ist Russlands wichtigster
Transportweg für den Ölexport, auf dem Rohöl aus Russlands Ölprovinzen in
Westsibirien und Timan-Pechora nach Westen zum Hafen von Primorsk im russischen
Teil des Finnischen Meerbusens transportiert wird. Das BPS wurde im März 2006
fertiggestellt und kann pro Tag über 1,3 Millionen Barrels russisches Erdöl in
die westlichen Märkte in Europas und darüber hinaus transportieren.
Im gleichen Monat, März
2006, wurde der frühere deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder zum
Vorsitzenden eines russisch-deutschen Konsortiums für den Bau einer
Ergasleitung ernannt, die etwa 1200 km unter der Ostsee verlaufen soll.
Mehrheitsaktionär in diesem Projekt einer
Nordeuropäischen Gas-Pipeline (NEGP) ist mit 51% die russische staatlich
kontrollierte Gazprom, das größte Erdgasunternehmen der Welt. Die deutschen
Firmen BASF und e.on halten jeweils einen Anteil von 24.5%. Das Projekt, dessen
Kosten auf 4,7 Milliarden Euro
geschätzt werden, wurde Ende 2005 begonnen und wird den Gasterminal in dem
russischen Ostseehafen Vyborg bei St. Petersburg mit dem deutschen Ostseehafen
Greifswald verbinden. Das Erdgasfeld von Yuzhno-Russkoye in Westsibirien wird
in einem Joint Venture von Gazprom und der BASF erschlossen, um die Leitung zu
beliefern. Dies war Schröders letzte größere Amtshandlung als Bundeskanzler und
führte zu wütenden Protesten der Washington-freundlichen polnischen Regierung
und der Ukraine, die damit beide die
Kontrolle über die Gastransporte aus Russland verlieren würden. Trotz ihrer
engen Beziehungen zur Bush-Regierung musste Bundeskanzlerin Merkel die Kröte
schlucken und das Projekt akzeptieren. Für die deutsche Industrie sind die
russischen Energieimporte schlicht unentbehrlich. Russland ist bei weitem
Deutschlands größter Erdgaslieferant.
Das riesige
Erdgasvorkommen von Shtokman im russischen Teil der Barentsee nördlich der
Hafenstadt Murmansk wird langfristig ebenfalls die NEGP mit Gas beliefern. Nach
ihrer Fertigstellung wird die NEGP mit ihren zwei parallel verlaufenden Leitungen
Deutschland pro Jahr bis zu 55 Milliarden Kubikmeter russisches Gas zusätzlich
liefern.
Im April 2006 begann die
Regierung Putin mit der Ostsibirien-Pazifik-Pipeline (ESPO), einer 11,5
Milliarden US Dollar teuren Ölpipeline von Taishet in der Region von Irkutsk in
Ostsibirien an die russische Pazifikküste. Gebaut wird sie von Transneft, der
staatseigenen russischen Pipelinegesellschaft. Nach ihrer Fertigstellung wird
sie täglich bis zu 1,6 Millionen Barrels von Sibirien in den Fernen Osten
Russlands und von dort in die energiehungrige asiatisch-pazifische Region,
hauptsächlich nach China, pumpen. Die erste Baustufe soll Ende 2008
abgeschlossen sein. Bisher kann sibirisches Öl nur per Schiene an den Pazifik
transportiert werden
Für Russland
bringt die Leitung von Taishet nach Perevoznaya den maximalen strategischen
Nutzen und ermöglicht gleichzeitig Ölexporte nach China und Japan. In Zukunft
kann das Land von dem Hafen von Nakhodka Öl direct nach Japan exportieren. Das
ölabhängige Japan sucht verzweifelt nach neuen sicheren Ölquellen außerhalb des
instabilen Mittleren Ostens. Die ESPO kann zudem sowohl Süd- als auch Nordkorea
durch den Bau von Nebenpipelines von Wladiwostok in beide Länder und China über
eine Nebenpipeline von Blagoveshchensk nach Daqing beliefern. Die
Taishet-Pipeline bietet einen klaren Rahmen für die energiepolitische
Zusammenarbeit zwischen Russland und China, Japan und anderen Ländern der
asiatisch-pazifischen Region.
Sachalin: Russland zügelt Big
Oil
Ende September 2006 brach
eine scheinbar unwichtige Auseinandersetzung aus und führte zum Widerruf einer
Umweltgenehmigung für das Projekt Erdgasverflüssigung Sachalin II der Royal
Dutch Shell, das Japan, Südkorea und andere Kunden von 2008 an mit Flüssiggas
beliefern sollte. Shell ist der Konsortialführer in einem britisch-japanischen
Öl- und Gasprojekt auf der großen Insel Sachalin im Fernen Osten Russlands,
nördlich des japanischen Hokkaido.
Dann verkündete die
Regierung Putin, dass sich auch ExxonMobil nicht an die Umweltauflagen für
ihren Ölterminal in De Kastri auf Sachalin gehalten habe, der zu deren Öl- und
Gasprojekt Sachalin I gehört. In Sachalin I lagern schätzungsweise 8 Milliarden
Barrels Öl und erhebliche Gasmengen, womit es einer der seltenen „Super
Giant“-Ölfunde ist, wie Geologen es nennen.
Anfang der
Neunzigerjahre, als der russische Staat pleite war und die Ölpreise im Keller,
machte die Regierung Jelzin einen verzweifelten Versuch, die nötigen
Investitionsmittel und Technologie für die Entwicklung der russischen Eröl- und
Gasregionen ins Land zu ziehen. In einer kühnen Aktion vergab Jelzin an
amerikanische und andere wichtige westliche Ölgesellschaften großzügige
Schürfrechte für zwei große Ölprojekte, Sachalin I und Sachalin II, beide unter
einer sogenannten Produktionsquotenvereinbarung.
Die Bestimmungen der
Produktionsquotenvereinbarungen, die für Geschäftsbeziehungen zwischen großen
angloamerikanischen Ölgesellschaften und schwachen Ländern der Dritten Welt
typisch sind, besagen, dass der russischen Regierung die Öl- und Gasrechte mit
einem Anteil an dem eventuell schließlich geförderten Öl bzw. Gas vergütet
werden. Allerdings erst nach Deckung aller Projektkosten würden die ersten
Tropfen Öl an Russland fließen. Produktionsquotenvereinbarungen wurden
ursprünglich von Washington und Big Oil entwickelt, um den Ölgesellschaften die
Kontrolle über Ölgroßprojekte in Entwicklungsländern zu erleichtern. Die großen
amerikanischen Ölriesen, die mit dem James Baker Institute zusammenarbeiteten,
das wiederum Dick Cheneys Energy Task Force Review von 2001 erstellte, nutzten
die Möglichkeiten der Produktionsquotenvereinbarung, um sich wieder die
Kontrolle über die irakische Ölproduktion zu verschaffen, und verbargen das
Ganze hinter der Fassade einer staatseigenen irakischen Ölgesellschaft.
Kurz bevor die russische
Regierung ExxonMobil mitteilte, dass sich bei deren Terminal auf Sachalin
Probleme ergeben hätten, hatte ExxonMobil eine weitere Steigerung der
Projektkosten angekündigt. ExxonMobil, die von dem Rechtsanwalt James Baker III
vertreten wird und eng mit dem Weißen Haus unter Cheney und Bush
zusammenarbeitet, kündigte eine Kostensteigerung von 30% an, womit ein etwaiger
russischer Anteil an den Ölflüssen unter der Produktionsquotenvereinbarung in
noch weitere Ferne rückte. Die Ankündigung erfolgte unmittelbar vor der
Veröffentlichung von Plänen der ExxonMobil, in De Kastri auf Sachalin einen
Ölterminal zu eröffnen. Daraufhin erklärten das russische Umweltministerium und
die Agentur für die Ausbeutung von Bodenschätzen plötzlich, der Terminal
erfülle „nicht die Umweltauflagen“, und erwägt angeblich auch einen
Produktionsstopp für ExxonMobil.
Die
britische Royal Dutch Shell hält unter einer anderen
Produktionsquotenvereinbarung die Erschließungsrechte für die Öl- und
Gasvorkommen der Region Sachalin II sowie Rechte zum Bau des ersten russischen
Flüssiggasprojekts. Das 20 Milliarden-Dollar-Projekt mit über 17.000
Arbeitsplätzen ist zu 80% abgeschlossen. Es ist das größte integrierte Öl- und
Gasprojekt der Welt und umfasst auch das erste russische
Offshore-Ölproduktionsvorhaben Russlands sowie die erste integrierte russische
Offshore-Gasplattform.
Die eindeutigen Schritte
der russischen Regierung gegen ExxonMobil und Shell wurden in der Branche als
Versuch der Regierung Putin gewertet, die Kontrolle über die Öl- und
Gasvorkommen wiederzuerlangen, die sie während der Jelzin-Ära abgegeben hatte.
Im Rahmen von Putins neuer Energiestrategie wäre das nur stimmig.
Das russisch-türkische
Gasprojekt Blue Stream
Im
November 2005 schloss die russische Gazprom die letzte Stufe ihrer 1.213
Kilometer langen und 3,2 Milliarden US Dollar teuren Gasleitung Blue Stream ab.
Das Projekt führt Gas aus ihren Felder in Krasnodar heran und dann weiter in
Unterwasserpipelines durch das Schwarze Meer bis an dessen türkisches Ufer. Von
da aus versorgt die Pipeline Ankara mit russischem Gas. Wenn sie 2010 ihre
volle Kapazität erreicht, wird sie jährlich 16 Milliarden Kubikmeter befördern.
Gazprom erwägt jetzt den
Transit von russischem Gas in die Länder Südeuropas und des östlichen
Mittelmeers auch
auf der Grundlage neuer Verträge mit höherem Liefervolumen. Griechenland,
Süditalien und Israel stehen alle in Verhandlungen mit Gazprom, um über die
Türkei Zugang zu Gas aus der Blue-Stream-Pipeline zu erhalten. Ein neuer
Transportweg für Gaslieferungen ist geplant, und zwar über Ost- und
Mitteleuropa. Das Projekt heißt Südeuropäische Gaspipeline. Ziel ist der Aufbau
eines neuen Durchleitungssystems für Gas sowohl aus russischen Quellen als auch
aus Drittländern.
Auch ohne das Potential,
das sich aus ihrem Eintritt in den weltweiten Entwicklungsmarkt Flüssiggas
ergibt, steht die Gazprom im Zentrum der russischen Bestrebungen, mit Energie
aus Öl, Gas und nuklearen Quellen neue Wirtschaftspartner und Bündnisse in ganz
Eurasien für das bevorstehende Duell mit den USA zu erschließen.
Amerikanische Pläne für eine
„nukleare Vormachtstellung“
Für Russland unter Putin
liegt der Schlüssel zum Erfolg in seiner Fähigkeit, seine eurasische
Energiestrategie durch glaubhafte militärische Abschreckung zu verteidigen und
die mittlerweile offenkundigen militärischen Pläne Washingtons für die vom
Pentagon als „Full Spectrum Dominance“ bezeichnete ganzheitliche Konztrolle zu
konterkarieren.
In einem Artikel mit dem Titel ‘The Rise of US
Nuclear Primacy’ in Foreign Affairs,
der Zeitschrift des Council on Foreign Relations in New York, vom März 2006
behaupten Kier Lieber und Daryl Press:
„Zum ersten Mal in fast 50 Jahren stehen die Vereinigten
Staaten an der Schwelle zur nuklearen Vormachtstellung. Vermutlich werden die
Vereinigten Staaten bald in der Lage sein, Russlands oder Chinas Arsenale
nuklearer Langstreckenwaffen in einem Erstschlag zu zerstören. Diese
dramatische Verlagerung des nuklearen Machtgleichgewichts resultiert aus einer Reihe
von Verbesserungen in den Nuklearsystemen der Vereinigten Staaten, dem
ungeheuer raschen Verfall des russischen Arsenals und der eiszeitlichen
Modernisierungsgeschwindigkeit der nuklearen Waffensysteme Chinas. Wenn sich
die Politik Washingtons nicht ändert und Moskau oder Peking keine Schritte
unternehmen, die Größe und Bereitschaft ihrer Streitkräfte zu steigern, werden
Russland und China -- und der Rest der Welt – noch viele Jahre im Schatten der
nuklearen Vormachtstellung der USA leben.“
Die beiden amerikanischen
Autoren behaupten - ganz richtig - dass sich seit dem Zusammenbruch der
Sowjetunion im Jahr 1991 Russlands Arsenal an strategischen Atomwaffen
„dramatisch verschlechtert“ hat. Sie kommen weiterhin zu dem Schluss, dass die
USA bewusst eine globale nukleare Vormachtstellung anstrebt, und zwar bereits
seit geraumer Zeit. Die Nationale Sicherheitsstrategie der Regierung Bush vom
September 2002 stellt ausdrücklich fest, dass die offizielle Politik der USA
auf das Erreichen einer globalen militärischen Vormachtstellung abzielt, was
angesichts der jüngeren Maßnahmen Washingtons seit den Ereignissen von
September 2001 für viele Nationen heute eine beunruhigende Vorstellung ist.
Eines der
Lieblingsprojekte von Verteidigungsminister Rumsfeld war der Aufbau einer
amerikanischen Raketenabwehr. Den amerikanischen Wählern wurde sie als
Verteidigungsmaßnahme gegen mögliche terroristische Angriffe verkauft. In
Wirklichkeit richtet sie sich gegen die einzigen beiden echten Atommächte,
Russland und China, wie die Regierungen in Moskau und Peking klar erkannt
haben.
Der Artikel in Foreign Affairs führt aus: „Eine
Raketenabwehr von der Art, wie die Vereinigten Staaten sie plausiblerweise
bereitstellen könnten, wäre in erster Linie in einem offensiven und nicht in
einem defensiven Kontext sinnvoll – als Ergänzung einer amerikanischen
Erstschlagskapazität, nicht als einziger Schutzschild. Im Falle eines nuklearen
Angriffs der Vereinigten Staaten gegen Russland (oder China) verbliebe dem
Zielland -- wenn überhaupt -- nur ein winziges Arsenal. An diesem Punkt würde
selbst ein relativ bescheidenes oder ineffizientes Raketenabwehrsystem
ausreichen zum Schutz gegen etwaige Vergeltungsschläge, denn der schwer
geschädigte Feind hätte nur noch sehr wenige verbleibende Sprengköpfe und
Scheinanlagen.“
Angesichts der Tatsache,
dass die Vereinigten Staaten die Truppen ihrer NATO-Partner aktiv nach
Afghanistan und jetzt in den Libanon in Bewegung gesetzt haben und ganz
eindeutig das frühere UdSSR-Mitglied Georgien unterstützen, das heute ein
kritischer Faktor im Zusammenhang mit der kaspischen Ölpipeline
Baku-Tiflis-Ceyhan/Türkei ist, darf es
kaum überraschen, dass Moskau die Versprechen des amerikanischen Präsidenten,
dem von den USA definierten Erweiterten Mittleren Osten die Demokratie zu
bringen, möglicherweise mit einer gewissen Besorgnis hört. Dieser Kunstbegriff
„Erweiterter Mittleren Osten“ ist die Schöpfung diverser Cheney nahestehender
Denkfabriken in Washington, zu denen auch dessen „Projekt für ein Neues
Amerikanisches Jahrhundert“ gehört, und bezeichnet die nicht-arabischen Länder
Türkei, Iran, Israel, Pakistan, Afghanistan, die zentralasiatischen (ehemaligen
UdSSR-) Staaten, sowie Aserbeidschan, Georgien und Armenien. Präsident Bush
verwendete diesen Begriff zum ersten Mal auf dem G-8-Gipfel im Sommer 2004 und
bezeichnete damit das Zielgebiet für Washingtons Projekt der Verbreitung der
„Demokratie“ in der Region.
Am 3. Oktober warnte das
russische Außenministerium, Russland werde „geeignete Maßnahmen ergreifen“,
falls Polen Bestandteile des neuen amerikanischen Raketenabwehrsystems in
Stellung bringen sollte. Polen ist heute Mitglied der NATO. Sein
Verteidigungsminister Radek Sikorski war früher einmal Gastwissenschaftler in
Washington bei Richard Perles Falken-Denkfabrik AEI. Er war außerdem
Geschäftsführer der „Neuen Atlantischen Initiative“ (New Atlantic Initiative),
eines Projekts mit dem Ziel, unter dem Deckmantel der Verbreitung der
Demokratie die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten Osteuropas in die NATO zu
führen. Über die NATO bauen die Vereinigten Staaten zudem ein europäisches
Raketenabwehrsystem auf.
Einziges denkbares Ziel
eines solchen Systems wäre Russland, in dem Sinne, dass es einen
Erstschlagerfolg für die USA ermöglicht. Die Vollendung des europäischen
Raketenabwehrsystems, die Militarisierung des gesamten Mittleren Ostens, die
Einkreisung Russlands und Chinas ausgehend von einem Verbund neuer
US-Militärstützpunkte, von denen viele im Namen des Kriegs gegen den
Terrorismus errichtet werden, all dies erscheint dem Kreml mittlerweile als
Teil einer systematischen amerikanischen Strategie der „Full Spectrum
Dominance“. Das Pentagon bezeichnet es als auch als „Escalation Dominance“,
also die Fähigkeit einen Krieg auf jedem Niveau der Gewalt bis hin zum Atomkrieg
zu gewinnen.
Der militärische Status Moskaus
In seiner Rede zur Lage
der Nation vom Mai 2003 sprach Wladimir Putin von einer Stärkung und
Modernisierung der russischen Nuklearabwehr durch die Entwicklung neuartiger
Waffen auch für Russlands strategische Streitkräfte, die die „Verteidigungsfähigkeit Russlands und
seiner Verbündeten langfristig sicherstellt“. Russland stoppte den Abzug und
die Vernichtung seiner SS-18-MIR-Ved-Raketen, nachdem die Bush-Regierung einseitig
das Ende des ABM-Vertrags sowie ihre faktische Annullierung des
Start-II-Vertrags erklärt hatte.
Russland ist immer ein
mächtiges Gebilde geblieben, das modernste Waffentechnologien entwickelt. Auch
wenn sich seine Armee, Marine und Luftwaffe in einem desolaten Zustand
befinden, bleiben die Voraussetzungen für Russlands Wiederaufstieg zu einem
militärischen Kraftzentrum bestehen. Russland stellt auf diversen
internationalen Messen kontinuierlich erstklassige Waffentechnik vor und hat
seine Fähigkeiten überzeugend unter Beweis gestellt.
Nach einer Analyse der
Washingtoner Denkfabrik Power and
Interest News Report (PINR) aus dem Jahr 2004 produziert Russland trotz
finanzieller und wirtschaftlicher Schwierigkeiten weiterhin modernste
Waffensysteme. Eine seiner größten Leistungen nach der Auflösung der Sowjetunion war
das Panzerfahrzeug BMP-3, dem die Vereinigten Arabischen Emirate und Oman
gegenüber westlichen Fahrzeugen bei ihren Rüstungslieferungen den Vorzug gaben.
Die russischen
Boden-Luft-Raketensysteme, die S-300 und deren stärkere Nachfolgerin S-400,
gelten als schlagkräftiger als die amerikanische Patriot-Rakete. Die
ursprünglich einmal geplante Militärübung mit Patriot- und S-300-Raketen kam
nie zustande, so dass der unbestrittene, allerdings auch unbewiesene Anspruch
auf Überlegenheit der russischen über die amerikanischen Systeme weiterhin im
Raum steht. Fortgesetzt wird diese Liste mit den Militärhubschraubern aus der
Kamow-50-Familie, deren hochmoderne und innovative Technik und Taktik sie dem
besten militärischen Gerät der USA ebenbürtig macht. Aus Kreisen europäischer
Hubschrauberproduzenten wird das bestätigt.
In den jüngsten
gemeinsamen indisch-amerikanischen Luftwaffenmanövern, in denen die indische
Luftwaffe mit modernen russischen Su-30-Kampfflugzeugen ausgerüstet war, war
sie in der Mehrzahl der Einsätze den amerikanischen F-15 überlegen, was den
General der US-Luftwaffe Hal Homburg zu dem Eingeständnis bewegte, dass
russische Waffentechnik in indischer Hand die US-Luftwaffe „wachgerüttelt“
habe. Das russische militärische Establishment arbeitet weiter an der
Konstruktion weiterer Hubschrauber, Panzer und Panzerfahrzeuge, die sich mit
den besten westlichen Produkten messen können.
Waffenexporte waren neben
Öl und Gas eine der besten Möglichkeiten für Russland, an die dringend
benötigten Devisen zu kommen. Schon jetzt ist Russland zweitgrößter
Waffenexporteur nach den USA. In diversen Magazinen und Zeitschriften wird
berichtet, dass die moderne russische Militärtechnik derzeit wegen der
bestehende finanziellen Schwierigkeiten und Beschränkungen in den russischen
Streitkräften eher exportiert als den eigenen Armeen zur Verfügung gestellt
wird. Für Amerikas zukünftige militärische Operationen hat das Konsequenzen, da
praktisch alle Kampfformationen von aufständischen, Guerilla, Splitter- oder
Terroristengruppen auf der Welt – eben die Formationen, denen die Vereinigten
Staaten in ihren zukünftigen Kriegen am ehesten gegenüberstehen werden – mit
russischen Waffen oder deren Derivaten ausgerüstet sind.
Das russische
Nukleararsenal spielt seit dem Ende der Sowjetunion eine wichtige politische
Rolle, denn es gibt dem russischen Staat eine grundlegende Sicherheit. 2003
musste Russland von der Ukraine strategische Bomber und Interkontinentalraketen
kaufen, die dort gelagert waren. Seit dieser Zeit hatten strategische
Nuklearwaffen Priorität. Heute stehen die russischen Staatsfinanzen,
größtenteils dank der hohen Exporterlöse für Öl und Gas auf einer festen
Grundlage. Die russische Zentralbank hält mittlerweile mit mehr als 270 Milliarden
US Dollar die fünfthöchste Dollarreserve.
Trotz der allgemeinen
Belastung durch militärisches Engagement und Rüstungsausgaben bauen die USA
derzeit ohne großes Aufhebens ihren Einfluss und Militärpräsenz im Mittleren
Osten aus. Warum? Zum einen sicherlich wegen des Öls. Geopolitisch betrachtet
geht es aber auch darum, die eurasische Landmacht Russland zu neutralisieren
oder sie am Zugang zum Meer zu hindern – ganz im Sinne von Mackinder. Der Griff
der USA nach der „nuklearen Vormachtstellung“ über Russland ist der
weltpolitische Faktor, der am ehesten das Potential hat, die Welt wegen einer
Fehlkalkulation mit einem nuklearen Flächenbrand zu überziehen.
Vor einigen Jahren wurde
die Shanghai Co-operation Organization (SCO) von Russland und China gegründet, um
ausgewählte eurasische Länder zu einem Dialog zusammenzuführen. Bei ihrer
Gründung im Juni 2001 durch China, Russland, Kasachstan, Kirgisien,
Tadschikistan und Usbekistan bestand ihr erklärtes Ziel zunächst darin, ‘die
Zusammenarbeit auf dem Gebiet von n Politik, Wirtschaft und Handel,
Wissenschaft und Technik, Kultur und Bildung ebenso wie Energie …’ zu fördern.
Im vergangenen Juni war der iranische Präsident Achmadinedschad als Beobachter
willkommen, und der Iran wird von Russland und China ermutigt, der SCO
beizutreten. Bisher ist die SCO allem Anschein nach eher ein ziemlich
unstrukturiertes Diskussionsforum. Mit ein bisschen Provokation von Seiten der
USA und der NATO könnte sie allerdings rasch zum Kern eines breiteren
eurasischen Militär- und Energiebündnisses als Gegengewicht gegen die nukleare
Vormachtstellung der USA mutieren. Halford Mackinders Alptraum könnte somit in
Erfüllung gehen, ironischerweise hauptsächlich aufgrund der unilateralen und
aggressiven Außenpolitik eines zu selbstsicheren Amerika.
In
seinem zentralen Punkt bleibt Mackinders geopolitisches Konzept relevant: ‘Die
großen geographischen Realitäten ändern sich nicht: Landmacht gegen Seemacht,
Kernland gegen Randland, Zentrum gegen Peripherie...’ Das ist Russland ebenso
klar wie Washington.